Ineffektives Mentalisieren
Gelingendes Mentalisieren
meint die Reflexion sowohl eigener Motive, Gedanken und Gefühle als auch die Reflexion der Intentionen und Gefühle wichtiger anderer (Interaktionspartner). Imagination (Vorstellungskraft) und Realität (präzise Erfassung eines Geschehens) ergeben eine angemessen Perspektive auf eine komplexe soziale Wirklichkeit.
Gelingendes Mentalisieren ist mit einer mentalisierten Affektivität verbunden (Fonagy et al. 2015, Jurist 2018). Die eigenen Affekte werden zum Gegenstand der Reflexion, während man sie in sich wahrnimmt. Dies erleichtert eine Steuerung von Affekte und in der Folge von Handlungsimpulsen.
Mentalisierungsdimensionen
Gelingendes Mentalisieren berücksichtigt die Balance zwischen konträren Polen innerhalb von vier Dimensionen.
Verharrt eine Person mental zu intensiv und fortwährend an einem Pol, so ist dies ein Zeichen für ein eingeschränktes Mentalisieren. Entsprechen ist es Aufgabe des Therapeuten, in seinen Interventionen den anderen Pol zu suchen, das heißt eine mentale Bewegung hin zum konträren Pol beim Patienten auszulösen oder herauszufordern.
Kognitiv orientiert vs. affektiv orientiert
Kognitiv: Die Überbetonung ist verbunden mit geringer emotionaler Empathie.
Affektiv: Gefahr von Affekten überwältigt zu werden.
Implizit mentalisierend vs. explizit mentalisierend
Implizit: schnelles und reflexartiges Mentalisieren.
Explizit: “langsam, alles der Reihe nach“. Es erfordert Reflektion, Aufmerksamkeit, Bemühen.
Nach innen fokussiert vs. nach außen fokussiert
Innen: Es ist die Fähigkeit, Einschätzungen geben zu können auf der Grundlage der inneren Wahrnehmung, bei sich und anderen.
Außen: Tendenz, auf der Basis von externalen Eigenschaften und Beobachtungen zu urteilen.
Zum Selbst orientiert vs. zum anderen orientiert
Selbst: Bei Überbetonung dieses Pols besteht die Gefahr der Fixierung auf die eigene Wahrnehmung
Andere: Die Überbetonung der Orientierung am anderen kann zu eigener Ausbeutung/Missbrauch führe, aber auch von anderen.
Mentalisierungsstörungen und entwicklungspsychologischen Gesichtspunkte
Die Einteilung greift auf typische frühe Stufen der Mentalisierungsentwicklung zurück: den Teleologischen Modus, den Äquivalenzmodus und den Als-Ob-Modus (s. Abb.).
Äquivalenzmodus
Gleichsetzung der inneren mit der äußeren Welt. („Weil ich so fühle ist es so!“ oder „Gesagt, getan!“ oder „Es ist so wie es ist!“)
Häufig Konkretistisches Verstehen gekennzeichnet durch:
- Mangel an Aufmerksamkeit für die Gedanken, Gefühle und Wünsche anderer
- Neigung zu massiven Generalisierungen, Vorurteilen und Schwarz/Weiß Denken
Als-Ob Modus
Es fehlt die Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt. Die beiden Welten sind entkoppelt. Meist fehlt die „Bodenhaftung“, in Richtung dissoziativ gehend.
Häufig Pseudo-Mentalisieren, gekennzeichnet durch Sprechen in einer Psycho-Sprache, ohne dass dabei innere Prozesse berührt werden.
- Sprechen in einer psychologisierenden Sprache, ohne dass dabei der Zusammenhang zwischen innerem Prozess und äußerer Realität wirklich berührt wird
- Idealisierung der Einsicht um ihrer selbst willen
Teleologischer Modus
Motive anderer werden an ausschließlich von deren Handlung abgelesen. (“Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, dann tun sie dies:……“)
Häufig Instrumentalisierung von Mentalisierung gekennzeichnet durch
- Zwang dass etwas passieren muss
- Mentalisierung wird eingesetzt, um das Verhalten eines anderen zu kontrollieren
- Absichtliche Unterwanderung der Denkfähigkeit eines anderen (Am leichtesten erreicht durch die Verursachung von Erregung).
- Selbstschützendes Ausschalten der eigenen Mentalisierung als Schutz vor schädigenden/bösartigen Absichten von Beziehungspersonen (bei Trauma und
- Misshandlung).
Hypermentalisieren und Hypomentalisieren
Hypomentalisierung ist gekennzeichnet durch ein „Mangel“ an Mentalisierung während Hypermentalisieren durch ein „Zuviel“ an Mentalisierung charakterisiert wird. Auch wenn diese Eindimensionalität eine grobe Vereinfachung darstellt, ist sie doch in mancher Hinsicht sinnvoll s. Dziobek et al. 2006 unten.
Hypermentalisieren bezeichnet die „Fähigkeit“ den anderen mit zu vielen Attributen auszustatten, …. in sich selbst und den anderen zu viel von Affekten und Motiven „hineinzulesen“ (Schultz-Venrath, 2013).
Hypermentalisieren ist gekennzeichnet durch, dass Gedanken, Reflexionen und Phantasien als Möglichkeit genutzt werden, der augenblicklichen Realität auszuweichen. Hypermentalisieren geht einher mit Hypervigilanz, nicht hinterfragten Annahmen und unkontrolliertem exzessivem Schlussfolgern. (Bateman & Fonagy 2015).
Hypermentalisieren ist eine weitere Form der Mentalisierungsstörung, die aber mit der obigen entwicklungspsychologischen Einteilung nicht verbunden werden kann.
Hypermentalisierung und Epistemische Vigilanz/Epistemisches Misstrauen hängen eng zusammen.
Mentalisierungsstörungen lassen sich auch entlang der Ausprägung und Angemessenheit der Mentalisierungsfähigkeit einteilen. Dziobek et al (2006), die im Rahmen der „Theory of Mind“ Forschungen zur Mentalisierung bei Patienten mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum durchgeführt haben, entwickelten eine Skala zur Einschätzung der Mentalisierungsfähigkeit. Sie beruht auf der Einschätzung der Probanden an Hand von Filmszenen, die die Interaktionen zwischen 4 Freunden zeigt.
Dziobek et al (2006) unterscheiden zwischen:
- einem konkretistischen Modus (keine Mentalisierung)
- einer Hypomentalisierung (Ansätze eines intentionalen Verständnisses sind vorhanden, doch sind z.B. Beschreibungen zu einfach konstruiert um die Komplexität einer Situation zu erfassen)
- einem angemessenen Mentalisieren (s.o.)
- einem Hypermentalisieren (s.o.).
Literatur
Bateman A, Fonagy P. (2019) Mentalizing in Mental Health Practice 2nd ed.. APA Publishing, Washington
Bateman A, Fonagy P (2015) Handbuch Mentalisieren. Gießen. Psychosozial
Fonagy P, Gergely G, Jurist EL, Target M (2015) Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Klett Cotta
Bateman A, Fonagy P (2006) Mentalization-based treatment for borderline personality disorder. A practical guide. University Press, Oxford
Dziobek I, Fleck S, Kalbe, E, Rogers K, Hassenstab J, Brand M, Kessler J, Woike JK, Olive T, Wolf OT, Convit A (2006) Introducing MASC. A movie for the assessment of social cognition. In: Journal of Autism and Developmental Disorders 36(5), 623 – 636. doi:10.1007/s10803- 006-0107-0.
Schultz-Venrath, U (2013) Lehrbuch Mentalisieren. Klett-Cotta, Stuttgart.
Jurist, E (2018) Minding Emotions – Cultivating Mentalization in Psychotherapy“ Guilford Press, New York