Was ist neu am Mentalisierungskonzept?
Das Mentalisierungskonzept und seine Anwendungen in der Psychotherapie weisen Überschneidungen mit anderen Konzepten auf, z.B. mit der systemischen Therapie, der klientenzentrierten Therapie oder der dialektisch behavioralen Therapie (DBT). Dazu schreiben Allen, Bateman & Fonagy kühn:
Um deutlich zu machen, was wichtig ist am Mentalisierungskonzept, bedient sich Yudolfsky (2008) der Metapher eines antiken philosophischen Rätsels: „Was ist das wichtigste Teil an einem Ochsenkarren?“
Es fällt einem wohl ein: „die Räder“, “der Ochse“, „der Karren“, „der Fahrer“ oder „die Deichsel“.
Die richtige Antwort auf dieses Rätsel: das Konzept. Das Konzept ist der bedeutendste und machtvolle Teil beim Ochsenkarren, obwohl man es nicht sehen kann und auch nicht messend erfassen kann. Was macht nun ein Konzept bedeutend und machtvoll?
Es sind vier Kriterien:
Was heißt beim Ochsenkarren: Klarheit der Definition? Es ist die Eindeutigkeit der Begriffe von Rad, Deichsel, Ladefläche, Verbindung des Karren mit dem Ochsen. Was heißt beim Ochsenkarren: Nützlichkeit? Seit einigen Jahrtausenden ist der Transport von Lasten dadurch für den Menschen leichter geworden. Was heißt beim Ochsenkarren: Langlebigkeit? Der Ochsenkarren wird noch 3.000 Jahre nach seiner Erfindung in vielen Ländern benutzt. Was heißt beim Ochsenkarren: Generierung von neuen Konzepten?
Das Auto verdankt letztlich dem Konzept des Ochsenkarrens seine Erfindung. Bemerkenswert ist, dass die Originalität oder die Neuheit für den Wert oder die Bedeutung des Konzeptes hier kein Kriterium ist und keine zentrale Bedeutung hat.
Wenden wir die 4 Kriterien auf das Konzept der Mentalisierung an, so wie es von diesen Autoren vertreten wird (Brockmann & Kirsch 2010). Kann man wirklich begründet annehmen, dass das Konzept fundamentaler und bedeutender für die Psychotherapie ist als andere Konzepte?
1. Klarheit der Definition
Das Mentalisierungskonzept basiert auf Konzepten der Psychoanalyse und Ergebnissen empirischer Forschung aus der Entwicklungspsychologie, der Kognitiven Psychologie (Theory of Mind), der Bindungsforschung, der Neurobiologie und der empirischen Psychotherapieforschung. Das erfordert klare Begriffe, operationalisierbare und überprüfbare Modelle. Diese sind grundsätzlich falsifizierbar und können durch neue Modelle ersetzt werden, die mit den Forschungsergebnissen besser übereinstimmen.
2. Zur Nützlichkeit des Konzepts
Die für Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen manualisierte mentalisierungsbasierte Behandlung wurde in mehreren randomisierten, kontrollierten Studien (RCT-Studien) evaluiert. Durch diese Studien (siehe MBT) konnte MBT für Borderline-Störungen als psychoanalytisch orientierter Behandlungsansatz in den USA den Status einer evidenzbasierten Behandlung erreichen und wird, neben dialektisch-behavioraler Therapie, als Psychotherapiemethode für die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen empfohlen.
3. Langlebigkeit und Zukunft des Konzepts
Nun können wir nicht in die Zukunft blicken, aber die Bedeutung des Konzepts hat sich in genletzten 10 Jahren rasant entwickelt und es gibt Anzeichen, dass das Mentalisierungskonzept in Zukunft an Bedeutung zunehmen wird. Das Konzept ist nützlich zum Verständnis und zur Behandlung struktureller psychischer Störungen. Das Konzept inspiriert Forschung und Praxis in verschiedenen Bereichen und weltweit. Das Konzept wurde im DSM-V aufgenommen, ebenso von Forschern auf dem Gebiet der Neurowissenschaften und regt im großen Stil theoretische und praktische Psychotherapieforschung an. Es besteht die Hoffnung, hierdurch Behandlungen klarer definieren und angemessener evaluieren zu können – mit dem Ziel, erfolgreicher zu behandeln.
4. Die Generierung von neuen Konzepten
Das Mentalisierungskonzept wird von Allen at al. (2008) als ein „generischer“, d. h. neue Aspekte generierender Ansatz der Psychotherapie aufgefasst. Der mentalisierungsbasierte Ansatz enthält dabei vieles, was als Fundus erfolgreicher therapeutischer Interventionen bekannt ist. Die Autoren sind davon überzeugt, dass unterschiedliche Therapien, von der Psychoanalyse bis zur kognitiven Verhaltenstherapie und systemischen Therapie, die Mentalisierungsfähigkeit fördern – solange sie den generellen und situativen Mentalisierungsfähigkeiten des Patienten angepasst sind. Deutungen können dabei sehr erfolgreich sein – allerdings nur, wenn sie vom Patienten mentalisierend verarbeitet werden können.
Das Konzept der Mentalisierung hilft, die eigene Theorie über das, was man als Therapeut tut, zu klären. Es verstärkt die Kohärenz und die Prägnanz im Prozess. Vielleicht erhöht dies schon allein – so die Autoren – die therapeutische Wirksamkeit auf subtile Weise (Brockmann & Kirsch 2015).
Das Mentalisierungskonzept kann als Brückenkonzept zwischen den bekannten evidenzbasierten Psychotherapien verstanden werden (s. dazu „Psychotherapie als dreifache Kommunikation“)
Wer einmal die Skepsis gegenüber dem Begriff verloren hat, kommt schnell zu der Überzeugung, dass er mit dem Begriff „alles“ verstanden hat. Aber die Überzeugung währt nur eine kurze Zeit. Die Komplexität und wachsende Zahl an Publikationen zur Erforschung des Mentalisierungskonzepts und seiner Anwendung in Psychoanalyse, Psychotherapie, Beratung und Pädagogik belehren einen schnell eines besseren.
Prüfen Sie auf den folgenden Seiten selbst, in wieweit das Mentalisierungskonzept den vier Kriterien genügt.
Literatur
Allen JG, Fonagy P. Bateman AW (2008) Mentalizing in clinical practice, Amerivan Psychiatric Publishing, Arlington. Deutsch: Allen JG, Fonagy P, Bateman AW (2011) Mentalisieren in der Psychotherapeutischen Praxis. Klett-Cotta Stuttgart
Brockmann J & Kirsch H (2015) Mentalisieren in der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal 1 13-22 (Link)
Brockmann J & Kirsch H (2010) Mentalisierung. Alter Wein in neuen Schläuchen? In: Wahl P, Sasse H, Lehmkuhl U : Intersubjektivität oder Robinson Crusoe. Göttingen V&R. 52-70
Taubner, S.; Sevecke, K. (2015) Kernmodell der Mentalisierungsbasierten Therapie. Psychotherapeut. 60: 169-184
Yudolfsky St (2008) Forword Allen JG, Fonagy P. Bateman AW (2008) Mentalizing in clinical practice, Amerivan Psychiatric Publishing, Arlington.