Mentalisieren in der psychodynamischen und psychoanalytischen  Psychotherapie

Mentalisieren in der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie ist kein neues therapeutisches Verfahren, sondern eine Orientierung am Mentalisierungskonzept.

Der Ansatz resultiert aus den praktischen Herausforderungen, die die strukturellen Störungen an die klassischen psychoanalytischen und von ihr abgeleiteten psychodynamischen Verfahren stellen (Brockmann, Kirsch, & Taubner  2022).

Eine gewisse Nähe besteht auch zur ”Strukturbezogenen Psychotherapie“ (Rudolf et al 2002, Rudolf 2006). Soweit uns bekannt ist, macht die strukturelle Therapie hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens jedoch wenig dezidierte Aussagen, sodass möglicherweis hier das mentalisierungsorientierte Vorgehen eine Lücke schließen kann.

Bezeichnend auch, dass das Mentalisierungskonzept, das interessanteste, umfassendste und einflussreichste Theorieprojekt der Gegenwartspsychoanalyse………., das auf dem besten Weg ist, zum ‚common ground‘ des psychoanalytischen Pluralismus zu werden.“ (Altmeyer und Thomä 2006) 

Mentalisieren in der psychoanalytischen und psychodynamischen Psychotherapie hat zwei Schwerpunkte:

+ der Prozessfokus bezieht sich auf die Förderung der Mentalisierung nach dem Mentalisierungskonzept und der daraus abgeleiteten Behandlungstechnik.

+ der inhaltliche Fokus bezieht sich auf die Formulierungen und Interpretationen des Therapeuten zu den interpersonalen bewussten und unbewussten Mustern, greift auf die psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien zurück.

Der Fokus der Behandlung bezieht sich in beiden Bereichen weitgehend auf das „Hier und Jetzt“. Die Grundlage der Integration ist das Konzept der Mentalisierung. Es hat den Vorteil gegenüber den älteren psychoanalytischen Konzepten, dass es nicht so viel metapsychologischen Ballast mit sich trägt und mehr die neueren Quellen außerhalb der Psychoanalyse rezipiert. ( Jurist 2018, S. 90 Übers. JB)

Die übergeordneten praktischen Prinzipien

Generelle Merkmale hinsichtlich der gesamten Stunde

  • Therapeutische Haltung: Haltung des Nichtwissens
  • Strukturierung der Stunde (Fokus)

 Merkmale der Therapeutischen Interventionen

  • Unterstützung der Mentalisierung des Patienten
  • Erkennen des Nicht-Mentalisierens (Modi) und Unterbrechen des Nicht-Mentalisierens
  • Fokussieren auf die Affekte im Narrativ
  • Mentalisieren der Beziehungen

Angelehnt an Bateman  (2019)

Vereinfachtes Beispiel
+ für eine sich beim Kind entwickelnde Selbstrepräsentation: „Ich bin meinem Vater als einer bedeutenden Bindungsperson hilflos ausgeliefert.“
+ für eine sich beim Kind entwickelnde Objektrepräsentation: „Mein Vater ist unberechenbar, manchmal feindlich, manchmal freundlich.“
+ für den dazugehörigen Affekt: „Ich habe Angst, ich bin verwirrt und traue keinem.“+ für eine mögliche Abwehr im Erwachsenenalter:  dcharakterisiert durch den Abwehrmenchanismus der „Spaltung“: Erleben und Bewerten eines anderen als völlig gut und dann als ganz schlecht, wechselnd je nach innerer Gefühlslag ohne dies als widersprüchlich zu erleben. Ein weiterer möglicher Abwehrmechanismus ist die Rationalisierung: „Alles halb so schlimm!“
+ für eine mögliches Defizit im Erwachsenenalter: der Verlust oder massive Einschränkungen in der Fähigkeit, Affekte wahrzunehmen, sie zu mentalisieren. Als Folge davon ein rascher Wechseln in den Äquivalenzmodus und ein schneller Wechseln den Kampf- oder Fluchtmodus.

Die Objektbeziehungstheorien

Nach Friedman lassen sich  vereinfacht „harte“ und „weiche“ Objektbeziehungstheorien unterscheiden (Friedman 1988 zitiert v. Fonagy, 1988).

Die „harten“ Objektbeziehungstheorien, die Theorien von M. Klein, W. Fairbairn und O. Kernberg, betonen Hass, Neid und Destruktion und verwenden Techniken, die den Patienten mit den unbewussten zerstörerischen Impulsen konfrontieren. In ihrem Modell der psychosozialen Entwicklung werden Persönlichkeitsstörungen auf dem Hintergrund der begrenzten Fähigkeiten des Kleinkindes gesehen, intrapsychische Konflikte zu verarbeiten. Sie führen zu defensiver Desintegration (Entwicklung von Teilobjekten) und frühen Abwehrmechanismen (Spaltung, projektive Identifikation).

Die „weichen“ Objektbeziehungstheorien, die Theorien von M. Balint, D.W. Winnicott und M. Kohut, betonen Liebe, Wachstum und Kreativität. Sie  verwenden therapeutische Techniken, die das Wachsen und die eigenen Ressourcen, aber auch die Regression   fördern.Während die „harten“ Theorien die Psychopathologie dabei weitgehend aus unbewussten Konflikten heraus verstehen, begreifen die „weichen“ Objektbeziehungstheorien die Pathologie eher aus den Umweltbedingungen des Kindes.

Zur Therapietheorie des Therapeuten

Die Objektbeziehungstheorien, aber auch andere „bona fide“ Theorien Wampold et al (2018), sind nicht wirklich „richtig“ oder „falsch“. Es sind Theorien, die dem Pat erklärt wie sein Leiden zustande kommt und welcher Weg aus dem Leiden herausführt. Sie schafft für den Patienten Sicherheit, ein Verständnis über die Behandlung, sie schafft Kohärenz und epistemisches Vertrauen (s. Psychotherapie als dreifaches Kommunikationssystem) .

Zur Indikation des integrativen Behandlungsmodells

Unabhängig von der Diagnose ist Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) in der psychodynamischen und psychoanalytischen Therapie nach dem hier vorgeschlagenen Modell indiziert:

+. für Patienten, die strukturelle Einschränkungen haben an einer Persönlichkeitsstörung leiden. Ein niedriges Strukturniveau scheint dabei mit Einschränkungen in der Mentalisierungsfähigkeit verbunden zu sein (Zettl et al., 2020).

+ für Patienten, die Schwierigkeiten in der Affektregulation haben, die in Verbindung mit Einschränkungen in der Mentalisierung stehen und bei denen es z. B. wünschenswert ist, dass eine Erweiterung der mentalisierten Affektivität zu einem psychischen Puffer zwischen Erleben und Handlung führt.

In Brockmann J, Kirsch H, Taubner S, (2023) finden Sie Weiteres zu dem integrativen Behandlungsmodell.

Das aktuelle Buch zum Thema: Brockmann J, Kirsch H, Taubner S, (2022)

Das Behandlungsmodell ist ein Schwerpunkt unseres Fortbildungsprogramms .

 

Literatur

Altmeyer M, Thomä H (Hrsg.) (2006) Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Klett-Cotta Stuttgart

Bateman A (2019) Adherence Scale. Download: https://www.annafreud.org/media/9069/adherence-scale-final-jan-19.pdf

Brockmann J, Kirsch H, Taubner S (2022) Mentalisierten in der psychodynamischen und psychoanalytischen Psychotherapie. Klett-Cotta Stuttgart

Fonagy P (1988) Psychodynamic Theory In: Bellak AS, Hersen M Comprehensive Clinical Psychology Vol 1 423-447 ISBN 978-0-08-042707-2 doi.org/10.1016/B0080-4270(73)00182-6

Jurist, E (2018) Minding Emotions – Cultivating Mentalization in Psychotherapy“ Guilford Press, New York

Rudolf G, Grand T., Henningsen P. (Hrsg.) (2002) Die Struktur der Persönlichkeit. Theoretische Grundlagen zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Stuttgart, Schattauer.

Rudolf, G. (2006). Strukturbezogene Psychotherapie: Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Stuttgart: Schattauer

Wampold, B. E., Imel, Z. E. & Flückiger, C. (2018), Die Psychotherapie – Debatte. Was Therapie wirksam macht. Bern: Hogrefe

Zettl M, Volkert J, Vögele C , Herpertz SC , Kubera KM, Taubner S (2020) Mentalization and criterion a of the alternative model for personality disorders: Results from a clinical and nonclinical sample. Personal Disord May;11(3):191-201.  DOI: 10.1037/per0000356

 

Bild: Elisabeth Brockmann