Das Mentalisierungskonzept
Wir mentalisieren, wenn wir uns bewusst werden, was in einem anderen Menschen vorgeht oder was in uns selbst vorgeht. Fonagy hat es auf die prägnante Formel gebracht: „Having Mind in Mind“. Mentalisierend interpretieren wir automatisch das Verhalten von uns und anderen. Dabei gelingt es uns von Situation zu Situation besser oder schlechter, die innere Welt einer anderen Person, d. h. ihre Motive, Emotionen, Überzeugungen etc. zu lesen. Die Fähigkeit, zu mentalisieren hängt dabei nicht nur von der jeweiligen Situation und vom Stressniveau ab, auch können es Menschen unterschiedlich gut.
Das Erkennen des mimischen Ausdrucks von Emotionen hat dabei eine wichtige Bedeutung für die Verständigung. Insbesondere in wichtigen Beziehungen vermittelt es Sicherheit, die Gefühlslage und Motive des andern einigermaßen einschätzen zu können. Da wir die innere Welt unserer Mitmenschen immer nur annäherungsweise und ungenau erfassen können, entstehen manchmal Missverständnisse. Je schlechter wir die Welt unserer Mitmenschen (und unsere eigene) erfassen können, umso häufiger entstehen Missverständnisse. Auf der Basis falscher Annahmen zu reagieren erzeugt Konfusion. Sich missverstanden zu fühlen erzeugt wiederum heftige Gefühle, die zu Rückzug, Feindseligkeiten, kontrollierendem Verhalten oder Zurückweisung führen.
Gelingendes Mentalisieren zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Genauigkeit und Reichtum.
Genau mentalisieren heißt, die anderen so zu sehen, wie sie sind und ebenso sich selbst so zu sehen, wie man ist. Um den anderen so zu erkennen, wie er ist, braucht es Phantasie. Wir müssen uns in den anderen hineinversetzen, uns in seine Schuhe stellen. Aber das ist eine unsichere Sache.
Zum Beispiel dann, wenn man sehr selbstkritisch ist, mag man fälschlicherweise annehmen, dass der andere es mir gegenüber auch ist. Mentalisieren ist genau, wenn die Phantasie mit der Realität verbunden bleibt.
Der Reichtum des Mentalisierens bezieht sich auf die Anerkennung und Herausarbeitung verschiedener Perspektiven. Wenn eine Aussage im Ton der Gewissheit getroffen wird, wie etwa: „Dieser Patient ist narzisstisch“, ist das Mentalisieren meist am Ende.
Mentalisieren versetzt uns in die Lage, uns von impulsivem, zerstörerischem oder selbst-zerstörerischem Verhalten distanzieren zu können, zu reflektieren anstatt zu handeln, die Wut z. B. zu spüren, sie wahrzunehmen, sie zu beobachten und nicht gleich draufzuhauen. Im Sprachgebrauch des mentalisierungsbasierten Therapieansatzes heißt das den „Pausenknopf drücken“. Den Pausenknopf zu drücken ist dann hilfreich, wenn Konflikte durch heftige Affekte nicht mehr verstanden werden, nicht mehr mentalisiert werden können.
Mentalisieren ist eine kognitive und emotionale Leistung, die intersubjektiv erworben wird. Der Mensch erkennt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch den anderen.
Literatur
Bateman A & Fonagy P (2019) Handbook of Mentalizing in Mental Health Practice 2ndEd. American Psychiatric Association Publishing Washington
Bateman, A.W.; Fonagy, P. (2015) Handbuch Mentalisieren, Gießen. Psychosozial. Erste Auflage. Wesentliche Neuerungen aber in der 2. Auflage 2019! Jedoch bisher nur in englischer Sprache (s.o.).
Brockmann J & Kirsch H (2015) Mentalisieren in der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal 14 13-22 (Link)
Taubner, S (2015) Konzept Mentalisieren. Eine Einführung in Forschung und Praxis. Psychosozial-Verlag: Gießen.