Mentalisieren in der Evolution¹

Mithilfe der Thesen von Michael Tomasello zur geteilten Intentionalität wird die Entwicklung des menschlichen Denkens und der Kultur als grundlegend sozial entworfen.

„Das menschliche Denken ist eine individuelle Improvisation, die in eine soziokulturelle Matrix verwoben ist.“
(Tomasello 2014, S. 13)

Tomasello (2014) als Vertreter der evolutionären Anthropologie beschäftigte sich intensiv mit den Entwicklungen der Frühzeit der menschlichen Entwicklung (also dem Zeitraum von vor etwa 400.000 bis vor ca. 10.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung). Seine Modelle der gemeinsamen Intentionalität und der daraus folgenden Entwicklung beruhen auf empirischen und vergleichenden Studien zur Kommunikation von Menschenaffen und von Kleinkindern und gehen der Frage nach: Was macht das menschliche Denken einzigartig?

Das menschliche Denken beginnt mit der Kooperation, einer Zeigegeste und gemeinsamer Aufmerksamkeit für etwas Drittes.

Geteilte Intentionalität

Schon früh begannen Menschen mit anderen gemeinsame Ziele und eine gemeinsame Aufmerksamkeit zu bilden (z. B.: Wir wissen beide, dass wir den Hirsch jagen wollen), die dann individuelle Rollen und individuelle Perspektiven erzeugen, die koordiniert werden müssen (z. B. durch Zeigen, Pantomime oder erste Symbole). Die sozialen Interaktionen der Frühmenschen waren zunächst zweitpersonal, bezogen sich noch nicht auf eine Gruppe. Aber auch zu zweit bildete sich schon eine Zwei-Ebenen-Struktur von gleichzeitiger Gemeinsamkeit und Individualität aus (gemeinsame Intentionalität).

Mit dem Zusammenleben der Frühmenschen in größeren Gruppen wuchs die Bedeutung sozialer Kognitionen, damit ging eine kollektive Intentionalität mit der Entwicklung von Kultur und Sprache einher. Epistemisches Vertrauen und soziales Lernen wiederum ermöglichten die Weitergabe von Wissen über Generationen hinweg. Die Fähigkeit zu mentalisieren, scheint dabei eine Schlüsselrolle einzunehmen, denn sie entwirft ein Modell der Entwicklung des Selbst im relationalen und kulturellen Kontext.

Homo Sapiens und Menschenaffen

Tomasello (2014) identifiziert verschiedene Kriterien, um den modernen Menschen von den Menschenaffen zu unterscheiden:

  • pro-soziale Einstellung,
  • kooperatives Denken und Zusammenarbeit (geteilte Intentionalität),
  • soziale Kognition (Mentalisierung, Theory of Mind),
  • Kommunikation (die Entwicklung von Sprachen),
  • kulturelles Lernen (soziales Lernen als Weitergabe von Wissen über Generationen),
  • soziale Normen und moralische Identität (als Ergebnis kollektiver Intentionalität).


Theory of Mind und Mentalisieren

Die Begriffe Theory of Mind (ToM) und Mentalisieren werden in der Literatur häufig synonym verwendet (Böckler-Raettig 2019, S. 11; Förstl 2012). Auch Svenja Taubner (2015, S. 17) versteht Mentalisierung als Theory-of-Mind-Konzept. Der Mentalisierungsansatz stellt jedoch eine Erweiterung und Kritik der bisherigen ToM-Forschung dar, die als mechanistisch und biologisch-verkürzt kritisiert wird. Die Mentalisierungstheorie greift dagegen einen sozial-interaktionistischen Ansatz auf und erweitert diesen um die Perspektive des Entwicklungskontextes (Taubner 2015, S. 21).

Bild: Elisabeth Brockmann

Entwicklungspsychologische Aspekte

Kleinkinder im Alter von 9–12 Monaten beginnen ihre Handlungen mit anderen durch gemeinsame visuelle Aufmerksamkeit zu strukturieren (Geben und Nehmen von Gegenständen, Vor- und Zurückrollen eines Balles, etc.). In gemeinsamer Aufmerksamkeit wird über einen außerhalb der Beziehung existierenden Gegenstand kommuniziert. Mithilfe sozialer Rückversicherung wird das eigene Explorationsverhalten von der Zustimmung der Bezugsperson abhängig gemacht. Sie beginnen um ihren ersten Geburtstag herum mit der kooperativen Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen im zweitpersonalen Modus. Das beinhaltet die Interaktion mit anderen durch gemeinsame Aufmerksamkeit, die Übernahme der Perspektive der anderen auf einfache Weise und den kreativen Gebrauch der Zeigegeste gegenüber anderen (Tomasello 2014, S. 213).

Mit etwa 14–18 Monaten beginnen Kleinkinder, mit anderen auf eine Weise zu interagieren, die auf gemeinsame Ziele hindeuten (Schimpansen nicht). Neben der direktiven Kommunikation (Menschenaffen) entsteht die informierende Information, um gemeinsame Tätigkeiten zu koordinieren. Dieser Zeitverlauf ist charakteristisch für viele kulturelle Kontexte.

Fertigkeiten zur kollektiven Intentionalität beginnen ungefähr um den dritten Geburtstag herum, in diesem Alter fangen Kinder an, gewisse soziale Normen gegenüber anderen durchzusetzen. Sie zeigen z. B. eine Verpflichtung zur gemeinsamen Tätigkeit und stellen eigene Belohnungen zurück, damit der Spielpartner auch seine Belohnung erhält (Tomasello 2014, S. 66).

Ab dem fünften Lebensjahr kann das Kind seine eigenen und fremde Überzeugungen als repräsentational verstehen und damit falsche Überzeugungen erkennen. Ungefähr in diesem Alter gelingt eine Integration des Äquivalenzmodus und des Als-Ob-Modus zum mentalisierenden, reflexiven Modus, und verschiedene Perspektiven können eingenommen werden (Taubner 2015, S. 49). Die Fähigkeit, zu mentalisieren gilt als entscheidende Determinante der Selbstorganisation und verbessert die Aufmerksamkeits- und Affektregulierung. Eine verbesserte Selbststeuerung wiederum ermöglicht soziales Lernen und die Aufnahme kulturellen Wissens.

Mentalisieren

Das Verständnis für Psychisches entsteht, wenn die Bezugspersonen das Kind als eigenständiges psychisches Wesen, mit eigenen Intentionen, Gefühlen und Motiven wahrnehmen (mentalisieren). Damit gilt die Mentalisierungstheorie als ein integrierendes Brückenkonzept, das Theory of Mind, Bindungstheorie und die psychoanalytische Vorstellung von Symbolisierung verbindet (Choi-Kain u. Gunderson 2008). Fonagy und Kollegen (2004) knüpfen an zentrale entwicklungspsychologische Erkenntnisse der Untersuchungen Tomasellos an und entwickeln sie weiter zu einer relationalen Theorie der Entwicklung des Selbst. Auch die Gegenwartspsychoanalyse und die dritte Generation der Kritischen Theorie beziehen sich auf Tomasellos Modell (Brauner 2018, S. 94) und auf das Mentalisierungskonzept (Altmeyer u. Thomä 2016).

„Angesichts der von Honneth und Habermas hervorgehobenen ‚These gemeinsamer Intentionalität‘, die nach Tomasello den Ausgangspunkt des Menschen beschreibt, wird die Nähe zur […] Mentalisierungstheorie mehr als offensichtlich: Der Frühmensch hat sich […] an dem Punkt der Evolution auf einzigartige Weise entwickelt, an dem er anfing, die Intentionen anderer verstehen zu wollen, anders ausgedrückt: an dem er zu mentalisieren begann“ (Brauner 2018, S. 95).

Folgt man der Argumentation, so kann man die Mentalisierungsfähigkeit als wichtige anthropologische Größe und Teil des Wesens des Menschen sehen. Denn die Fähigkeit zur Kooperation, Selbststeuerung und Integration in sozialen Gruppen, die Symbolisierungs- und Imaginationsfähigkeit, die Mythenbildung (z. B. auch die Bildung von Fiktionen) und die Gestaltung von Konventionen und Gruppennormen sind Ergebnis der phylogenetischen Entwicklung und bauen auf der Fähigkeit zu sozialen Kognitionen auf. Damit ist die Mentalisierungstheorie nicht begrenzt auf eine – am Individuum orientierte – Subjekttheorie und kann z. B. zu soziologischen, anthropologischen und anderen sozialwissenschaftlichen Themenstellungen wichtige Beiträge leisten. Der Mentalisierungsansatz entwirft ein entwicklungsorientiertes Menschenbild, das ebenso Anwendung findet in der Pädagogik (Stichwort „soziales Lernen“, Gingelmaier et al. 2018), Sozialen Arbeit (Stichwort „Partizipation und sozialer Ausschluss“, Kirsch 2014) oder in der Gesellschaftskritik (Stichwort „Identitätsbildung in der Spätmoderne und Fremdenfeindlichkeit“, Brauner 2018).

Nicht der Mythos vom Vatermord der Urhorde (als Ursprung menschlicher Kultur) bei Freud bestimmte die Kulturentwicklung, sondern die grundlegend soziale Natur des Menschen (Brauner 2018, S. 83). Minderwertigkeitsgefühle und Kompensation können so verstanden werden als Aspekte, die auf die komplexen sozialen Beziehungen und Machtverhältnisse in menschlichen Gemeinschaften hinweisen und auf die Notwendigkeit und Schwierigkeit, diese befriedigend (selbstwirksam) zu gestalten.

¹ Stark gekürzte und modifizierte Version des Beitrags Kirsch, H. (2019): Der Zeigefinger oder: Die Entwicklung sozialer Kognitionen. Z. f. Individualpsychol.44:286-298. 

 

Literatur

Altmeyer, M., Thomä, H. (Hg.) (2016): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (3. Aufl.). Stuttgart. Klett-Cotta.

Böckler-Raettig, A. (2019): Theory of Mind. München: Ernst Reinhardt.

Brauner, F. (2018): Mentalisieren und Fremdenfeindlichkeit. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Choi-Kain, L. W., Gunderson, J. G. (2008): Mentalization: Ontogeny, Assessment, and Application in the Treatment of Borderline Personality Disorder. Am. J. of Psychiatry 165: 1127–1135.

Förstl, H. (Hg.) (2012): Theory of Mind (2. Aufl.). Heidelberg: Springer.

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist E. L., Target, M. (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gingelmaier, S., Taubner, S., Ramberg, A. (Hg.) (2018): Handbuch Mentalisierungsbasierte Pädagogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Kirsch, H. (Hg.) (2014): Das Mentalisierungskonzept in der Sozialen Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Taubner, S. (2015): Konzept Mentalisieren. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Tomasello, M. (2014): Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin: Suhrkamp.