Mentalisieren und  Psychoanalyse

Mit der Formulierung ihres Mentalisierungskonzeptes unternehmen Fonagy und seine Arbeitsgruppe den Versuch einer psychoanalytischen Weiterentwicklung der Bindungstheorie.

Die Bindungstheorie und ihr Autor Bowlby zogen zunächst die Ablehnung von Seiten der Psychoanalyse auf sich, weil sie der äußeren Welt gegenüber der inneren Welt des Kindes die Priorität gaben. Auf der Grundlage der Beobachtung des realen Verhaltens von Säuglingen und Bezugspersonen ist ein von allen anderen Trieben und Bedürfnissen unabhängiges Bindungsbedürfnis anzunehmen, dessen Schicksal für die psychische Entwicklung von zentraler Bedeutung ist.

Der Einfluss der realen sozialen Umwelt auf die psychische Entwicklung wird betont, schon und vor allem in der Säuglingszeit, vermittelt über die reale und direkt beobachtbare Beziehung zwischen Bezugspersonen und Säugling. Das Bindungsverhaltenssystem gilt als die wichtigste biologische Grundlage für enge soziale Beziehungen, gewährleistet Gefühle von emotionaler Sicherheit, dient dem Schutz vor Stress und Belastung und bleibt in seiner Funktion über die gesamte Lebensspanne aktiv. Es ist unser wichtigstes psychologisches Immunsystem (Mertens 2012).

Indem Erikson die interaktionalen und psychosozialen Aspekte der Entwicklung über den Lebenslauf betonte, zeigen seine Konzepte zu Urvertrauen und Urmisstrauen große Gemeinsamkeiten mit der Bindungsklassifikation.

„Der Mentalisierungsfähigkeit kommt für das Verständnis des eigenen Selbst eine Schlüsselfunktion zu, da diese einen reflexiven Zugriff auf repräsentative Schemata ermöglicht.“ (Taubner 2010).

Es gibt einen Zusammenhang zwischen  Mentalisierungsfähigkeit und Bindung: Sichere Bindung fördert die Entwicklung von Mentalisierungsfähigkeit und Mentalisierungsfähigkeit fördert sichere Bindungen.

Bindungssicherheit entsteht nach dem Mentalisierungskonzept nicht allein durch eine hinreichende Feinfühligkeit der Beziehungspersonen, sondern ebenso durch die Fähigkeit der Bezugspersonen anhand der Äußerungen des Kindes, die darin zum Ausdruck kommenden Intentionen und Gefühle des Kindes zu verstehen und zu verbalisieren.

Fairbairn, Winnicott und andere britische Objektbeziehungstheoretiker entwickelten, mit verschiedenen Schwerpunkten, eine grundsätzlich soziale Theorie, die Psychoanalyse als eine Theorie menschlicher Beziehungen versteht. Die frühen Konflikte kreisen wesentlich um Autonomie und Abhängigkeit, Selbständigwerden, Bindung und Selbstbehauptung.

Winnicott beschreibt die Komplexität zwischen innerer und äußerer Realität. Mit dem „Übergangsobjekt“ entwickelt das Kind die Fähigkeit, ein Objekt nicht nur als Nicht-Ich zu erkennen, sondern es selbst zu erschaffen, es sich vorzustellen, zu erdenken, zu erfinden. Ein Möglichkeitsbereich für das Kind, mit Hilfe von Illusionen die Überschneidungen, Grenzen und Unterschiede zwischen innerer und äußerer Realität auszuloten.

Die zentrale Gemeinsamkeit zwischen diesen psychoanalytischen Konzepten und dem Mentalisierungskonzept belegen zwei Zitate (aus Jurist S. 239).

Winnicott (1972): „Psychotherapy is not making clever and apt interpretations; by and large it is a long-term giving back what patients bring. It is a complex derivate of the (maternal) face, that reflects back what there is to be seen.“

Fonagy & Target (2005): „Patients experience an intense hunger for understanding the ways that minds function; they learn this not so much from specific comments of the analyst but rather through the observation of the analyst’s developing a coherent model of their minds – through the experience of a mind’s having their minds in mind.“

Die enge Verbindung des Mentalisierungskonzepts mit der Psychoanalyse zeigen die Einzelfallstudien von Target (2016) und Fonagy & Allison (2015) als auch deren Überlegungen über eine Verbindung des Mentalisierungskonzepts mit einer Theorie über Sexualität Fonagy (2008) Target (2019, 2013).

Literatur

Fonagy P, Allison E (2016) Psychic Reality and the nature of consciousness Int. J. Psychoanal. 97/1 5-24,  DOI:10.1111/1745-8315.12403

Fonagy, P. (2008) A genuinely developmental theory of sexual enjoyment and its implications for psychoanalytic technique.  J Am Psychoanal Assoc. 56:11-36.

Fonagy P, Target M (2005) Some reflections on the therapeutic action in psychoanalytic therapy. In Auerbach JS, Levy KN, Schaffer CE (Eds.) Relatedness, self-definition, and mental representation: Essays in honor of Sidney J. Blatt. London Routledge

Jurist EL, Slade A, Bergner S, (2008) Mind to mind, infant research, neuroscience, and psychoanalysis. Other Press, New York

Mertens W (2012 Psychoanalytische Schulen im Gespräch Bd. 3  Psychoanalytische Bindungstheorie und moderne Kleinkindforschung. Huber Bern

Taubner, S, Nolte T, Luyten P, Fonagy P, (2010) Mentalisierung und das Selbst. Persönlichkeitsstörungen 14: 243-258

Target M. (2019) Ein Entwicklungsmodell für sexuelle Erregung, Begehren und Entfremdung In: Lemma, Alessandra; Lynch, Paul E. (Hg.): Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse

Target M (2016) Mentalization Within Intensive Analysis with a Borderline Patient British Journal of Psychotherapy 32, 2 202-214 doi:10.1111/bjp.12211

Target M. (2013) Ist unsere Sexualität unsere eigene? Ein Entwicklungsmodell der Sexualität auf der Basis früher Affektspiegelung.  Z. f. Individualpsychol. 38, 125-141.

Winnicott DW (1972) Playing and Reality London New York Basic Books