Mentalisierung und Stress
Störungen der Mentalisierungsfähigkeit
Mentalisieren ist am schwierigsten, wenn wir es am meisten brauchen: in Krisensituationen, in Konflikten mit bedeutenden Bezugspersonen, bei Missverständnissen aber auch wenn wir uns heftig verlieben. Solche Situationen sind meist mit höherem Affekt, aber immer mit neuronaler Erregung bzw. psychischem Stress verbunden. Nun verhält es sich so, dass zwar mit einer gewissen Stresserhöhung zunächst unsere Mentalisierungsfähigkeit wächst, aber dann aber wieder abfällt. Der Stress ist zu hoch. Der Stress nimmt weiter zu und wir verlieren mehr und mehr unsere Mentalisierungsfähigkeit. Ab einem gewissen Punkt schlägt dies dann um in ein Kampf- oder Fluchtverhalten. Das passiert bei jeden Menschen. Bei der einen Person früher, bei der anderen später.
Starker Stress jeglicher Art und intensive Emotionen behindern reflexive Selbstwahrnehmung und Mentalisierung im Allgemeinen.
Dies ist auch neurobiologisch erforscht und in einem Modell von Mayes (2000) zusammengefasst, das die Zusammenhänge anschaulich macht.
Das Modell zweier Erregungsmodule (Mayes 2000)
Mit zunehmender emotionaler Intensität (Arousal) werden unterschiedliche Hirnregionen aktiviert. Bei geringer bis mittlerer Erregung werden überwiegend Aktivitäten in präfrontalen Hirnregionen (System A) zur Problemlösung eingesetzt. Dies scheint in Verbindung zu stehen mit reflexiven kognitiven Leistungen und Verhaltenskontrolle, während bei intensivem Stress eher der posteriore Cortex und subcorticale Hirnregionen aktiviert werden (System B). Dies führt zur Abnahme reflexiver Fähigkeiten und zur Zunahme automatisierter Kampf- und Flucht-Reaktionen (automatisches Mentalisieren).
Bei Individuen mit traumatischen Erfahrungen (und bei Adoleszenten) ist der Umschaltpunkt zwischen reflexiven und automatisierten, subcorticalen Problemlösefähigkeiten nach links verschoben, d.h. schon bei einem mittleren Arousal verringert sich die Fähigkeit, zu reflektieren und automatisierte Kampf- und Fluchtreaktionen (nicht-mentalisierende Modi) werden eingesetzt (Mayes 2000).
Sicher gebundene Menschen schalten erst bei relativ hohem emotionalen Arousal in den automatischen Modus um und können rascher wieder kontrolliert mentalisieren.
„Liebe macht blind“
Bei intensiven Emotionen (nicht nur wenn wir verliebt sind) oder wenn unser Bindungssystem aktiviert ist (in Krisen), nimmt unsere Mentalisierungsfähigkeit deutlich ab. Von der Vorstellung, dass unsere Reflexionsfähigkeit bei mittlerer emotionaler Intensität am besten gelingt, wird die Empfehlung abgeleitet, in Psychotherapien die emotionale Intensität zu modulieren: „nicht zu nah am Feuer und nicht zu weit entfernt“.
Literatur
Mayes LC (2000) A developmental perspective on regulation of arousal states. Seminars in Perinatology 24:267-279
Taubner S (2015) Konzept Mentalisieren: Eine Einführung in Forschung und Praxis. Gießen. Psychosozial.
Taubner S (2008) Einsicht in Gewalt. Psychosozial Verlag Gießen
Fonagy P, Target M (2006) Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart