Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit

„Kinder bis etwa 3 Jahre sind naive Realisten, sie halten die Weise, wie die Welt ihnen erscheint, unhinterfragt für wahr und für alle zugänglich, sie verstehen noch nicht, dass ihre Überzeugungen zu Sachverhalten nur Annahmen sind, die den realen Tatbestand treffen oder auch verfehlen können“ (Bischof-Köhler 2011, S. 330).

Das Verständnis des Zusammenhangs zwischen innerer und äußerer Realität ist nicht von Beginn an vorhanden, sondern eine Entwicklungsleistung. Mentalisieren ist das Ergebnis einer erfolgreichen Integration zweier verschiedener Arten, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Die psychische Entwicklung bewegt sich von einer Erfahrung der psychischen Realität, in der mentale Zustände nicht als Repräsentationen abgebildet sind, hin zu einer zunehmend komplexeren Sicht der inneren Welt, die durch die Fähigkeit gekennzeichnet ist, Gedanken, Gefühle im anderen und in der eigenen Person vorauszusetzen und zu erkennen, dass eine (wenn auch lose) Verbindung zwischen diesen und der Außenwelt besteht (Fonagy 2003). Alle für das Mentalisieren notwendigen Entwicklungen spielen sich nicht entlang einer kognitiven Reifungslogik ab, sondern im Kontext der Eltern-Kind Beziehungen.

Das Emotionserleben gilt als Ursprung, aus dem schließlich Mentalisierung erwachsen kann. Ausgehend von der Hypothese, dass Säuglinge zwar über Emotionsausdrücke, aber nicht über ein differenziertes Bewusstsein oder Erleben ihrer emotionalen Zustände verfügen, wird der frühen Affektspiegelung eine zentrale Rolle zugeschrieben.

Eltern reagieren auf die Emotionsausdrücke des Kindes in spezifischer Weise, dies führt erst zur Bewusstwerdung der eigenen Emotionen durch die Reaktion der Bezugsperson. Eltern reagieren auf den Affektausdruck des Säuglings (z.B. Angst), sie markieren ihren spiegelnden Emotionsausdruck als übertrieben und als eine Mischung aus verschiedenen Affekten. Dies ermöglicht dem Säugling, zu erkennen, dass die Mutter auf seinen Ausdruck reagiert und es nicht der Ausdruck der Mutter ist.

Entwicklung der Mentalisierung

Entwicklungsschritte der Mentalisierungsfähigkeit: Zielgerichteter Modus (teleologischer Modus, ab ca. 9. Monat bis 1,5 Jahre) Das Kind kann eigene und fremde Handlungen als zielgerichtet interpretieren, aber es kann noch nicht dahinterliegende Ursachen, wie Motive, erkennen. Nur was beobachtet werden kann, zählt. Psychische Äquivalenz ( 1,5 – 4 Jahre) Gedanke und äußere Wirklichkeit werden nicht unterschieden (Wort = Gedanke = Realität). Innere Zustände, wie Gedanken, Wünsche, Ängste werden als real erfahren. Als-Ob-Modus ( 1,5 – 4 Jahre) Die Gedanken, Motive und Ängste sind (wie im Spiel) von der Realität getrennt. Reflexiver Modus (ca. ab 4. bis 5. Lebensjahr) Der reflexive Modus integriert die vorher nebeneinander existierenden Modi. Er ermöglicht ein Nachdenken über das eigene Selbst und über das vermutete Innenleben anderer Menschen. Unterschiedliche Perspektiven werden anerkannt, und falsche Überzeugungen werden bei sich und anderen mit einbezogen.

Zielgerichteter Modus

Ab dem 9. Lebensmonat beginnen Kinder menschliches Handeln im zielgerichteten, dem „teleologischen Modus“ zu verstehen. Das Kind kann Aktionen nach seinem Ergebnis unterscheiden und eine Urheberschaft wahrnehmen.

Fonagy (1995) sowie Target u. Fonagy (1996) beschreiben ab ca. eineinhalb Jahren einen „psychischen Äquivalenzmodus“ und einen „Als-ob-Modus“ als Ausdruck der kindlichen Wahrnehmung und Gedankenwelt. Die kindliche Gedankenwelt wird jetzt bevorzugt im Spiel dargestellt und modifiziert.

Psychischer Äquivalenzmodus und konkretistische Weltsicht 

Im „psychischen Äquivalenzmodus“ erlebt das Kleinkind die innere Welt mit der äußeren Welt identisch. Eigene Gedanken werden als real und mit den Gedanken anderer identisch wahrgenommen. Alles ist konkret. Aus erwachsener Sicht erscheint dies als konkretistisch. Das Kind kann noch nicht verstehen, dass Denken und Wünschen Abbilder und Interpretationen der Umwelt sind, nicht die Realität selbst. Im günstigen Fall nehmen Eltern die Wahrnehmung des Kindes ernst, stellen aber eine andere Perspektive zur Verfügung und sind nicht geängstigt. Eigene Affekte oder Fantasien, die nur in der Vorstellung existieren, bekommen Auswirkungen in der Realität zugeschrieben und werden als furchteinflößend erlebt. Wenn das Kind denkt, ein Krokodil ist abends unter dem Bett, dann erscheint es real und bedrohlich. Wenn der Vater dann das Licht anmacht und beide unter das Bett schauen, stimmt das Kind den Erklärungen des Vaters zu und kann sich beruhigen.

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Als-Ob Modus und Spiel

Im „Als-ob-Modus“, dem Modus des Spiels und der Fantasie, wird die Gleichsetzung von innerer und äußerer Welt entkoppelt. Dies ermöglicht Kontrolle und Modifikation. Die physische Welt ist eine eigene Welt, und die imaginierte Welt (z. B. im Spiel) ist eine eigene Realität. Hierdurch bleiben die in der fantasierten Welt auftretenden Gedanken, Wünsche und Handlungen ungefährlich.

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Normalerweise werden destruktive Fantasien und Wünsche im Spiel durchgearbeitet, wobei das Kind dazu einen mitspielenden Erwachsenen oder ein älteres Kind an seiner Seite braucht, die ihm verdeutlichen, dass eine Idee nur eine Idee ist, die sich nicht direkt auf die Realität auswirkt. Diese Erfahrungen organisieren und vermitteln zwischen den Modi psychischen Funktionierens, so dass das Kind nach und nach seine im Spiel bestehende mentalisierende Haltung beibehalten kann (Taubner 2008).

Reflexionsfähigkeit

Im Laufe der Entwicklung des Kindes werden „Äquivalenzmodus“ und „Als-ob-Modus“ zunächst abwechselnd genutzt, um im vierten bis fünften Lebensjahr zum „reflexiven Modus“ integriert zu werden. Das Kind erforscht, was die Handlungen anderer bedeuten, darauf aufbauend kann es lernen, eigene psychische Erfahrungen zu bestimmen und als sinnvoll erkennen (Fonagy 2003 S.175).

Die Reflexionsfähigkeit ab dem 4. Lebensjahr wird möglich, weil das Kind die Erfahrung machen kann, dass seine psychischen Zustände reflektiert werden. Der Logik des Mentalisierungskonzeptes liegt die gemeinsame Erfahrung zugrunde (Fonagy & Target 2006).

Mentalisierungsfähigkeit und Adoleszenz 

Eine altersabhängige kontinuierliche Verbesserung der Fähigkeit zur Reflexion ist bis ins frühe Erwachsenenalter messbar. Für Fonagy und Mitarbeiter (Fonagy et al 2004) sind adoleszente Zusammenbrüche keine Folge eines normalen inneren Aufruhrs oder Triebdurchbruchs, sondern die Folge früherer Entwicklungsstörungen, die bislang verborgen blieben. In der Adoleszenz komme es zu einer Reaktivierung früherer Konflikte, und traumatische Belastungen aus der Kindheit werden handelnd in Szene gesetzt (im teleologischen oder Äquivalenzmodus).

Die reflexive Kompetenz als Bewältigungsmechanismus ist entscheidend.

Während der Adoleszenz werden neurofunktionelle Veränderungen  im Gehirn durch Geschlechtshormone strukturiert. Adoleszente haben eine erhöhte Aktivität subkortikaler Strukturen, die sie sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen unterscheidet. Während subkortikale Areale (Limbisches System) früher reifen, ist die Reifung präfrontaler Kontrollareale verzögert (Präfrontaler Cortex zuständig für Planung von Verhalten, Reflexion und Emotionssteuerung). Dies führt zu einem spezifischen Ungleichgewicht, da das weiter gereifte limbische System zunächst die Oberhand über das noch nicht ausgereifte Kontrollsystem gewinnt und erklärt ein erhöhtes Risikoverhalten und mangelnde Reflexionsfähigkeit und Verhaltenskontrolle (Uhlhaas & Konrad 2011).

Solche Übergänge sind häufig mit einer Destabilisierung verbunden, dies entspricht der Erfahrung der Adoleszenz als Krise.

Das Selbstkonzept schwankt in dieser Phase zwischen Größenfantasien und Ohnmachtsgefühlen. Dabei ist der Jugendliche außerordentlich abhängig von der Anerkennung anderer. Das Bestreben Jugendlicher, sich von den Eltern zu lösen und eine eigene Identität zu finden, ist ebenfalls mit großer Unsicherheit verbunden. Jugendliche, die sich ihrer Bindungen an die Bezugspersonen sicher sind, können das Getrenntsein eher tolerieren. Ein Jugendlicher, der Teile des Selbst (fremdes Selbst, siehe unten) in eine Bezugsperson projizieren muss, um sich zu stabilisieren, wird in seiner Identität bedroht, wenn er sich zu weit von dieser Bezugsperson entfernt.

Literatur

Bischof-Köhler D (2011) Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend – Bindung, Empathie, Theory of Mind, Kohlhammer, Stuttgart

Brockmann J & Kirsch H (2015)  Mentalisieren in der Psychotherapie. Psychotherapeutenjournal 1 13-22 (Link)

Fonagy P & Target M (2002) Neubewertung der Entwicklung des Affektregulation vor dem Hintergrund von Winnicotts Konzept des ‚falschen‘ Selbst . Psyche – Z Psychoanal 56: 839-862

Fonagy P (2003) Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart/Klett Cotta. 3. Auflage 2009

Fonagy P (1995) Playing with reality: the development of psychic reality and its malfunction in borderline personalities. Int J Psychoanal 76:39–44

Fonagy P (2003) Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart/Klett Cotta. 3. Auflage 2009

Fonagy P, Target M (2006) Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart

Fonagy P , Gergely G, Jurist EL, Target M (2004) Entwicklungsaufgaben der normalen Adoleszenz und adoleszenter Zusammenbruch In: Fonagy P, Gergely G, Jurist EL, Target M (2004) Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Klett Cotta 320- 342

Target M, Fonagy P (1996) Playing with reality, II: the development of psychic reality from a theoretical perspective. Int J Psychoanal 77:459–479

Taubner S (2008) Mentalisierung und Einsicht. Forum der Psychoanalyse 24:16-31

Uhlhaas PJ & Konrad K (2011) Das adoleszente Gehirn. Eine Perspektive. In: Uhlhaas PJ & Konrad K ( Hrsg) Das adoleszente Gehirn, Kohlhammer Stuttgart, 261-264